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Fachöffentlichkeit

NETWASS vor wissenschaftlichem Hintergrund

Inhaltsverzeichnis

1. Schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen

2. Prävention durch Fokussierung auf frühzeitige Hinweise einer abweichenden Entwicklung

3. NETWASS und die frühzeitige Prävention schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen

4. Projektziele

5. Implementationsbedingungen des NETWASS-Schulungskonzeptes

6. Evaluationsdesign von NETWASS

7. Definitionen

8. Ausgewählte Literatur

 

 

1. Schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen

 

Schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen ist eine aktuelle Problematik. In ihrer extremsten Erscheinung kann sich schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen in Form von sogenannten School Shootings äußern, die - wie in Erfurt (2002) und Winnenden (2009) - viele Opfer fordern können. In Deutschland wurden seit 1999 zwölf Fälle von schwerer zielgerichteter Schulgewalt bekannt (Leuschner, V., Bondü, R. et al., 2011).

 

Folgen schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen

School Shootings stellen schwerwiegende und tragische Ereignisse mit weitreichenden Folgen für alle Betroffenen dar. Dabei betrifft Gewalt an Schulen nicht nur Lehrer, Schüler und ihre Eltern, sondern auch weite Teile der Gesellschaft. Bei auftretender Schulgewalt sind ggf. Schulpsychologen, Polizisten, Sanitäter, Seelsorger und andere Berufsgruppen aktiv involviert. In einem solchen Fall sind auch sie akuter Gefahr und großen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt! Gewalt an Schulen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das das Sicherheitsempfinden maßgeblich negativ beeinflussen kann.

 

Auch wenn statistische Auswertungen zeigen, dass es sich bei extremen Gewaltvorfällen an Schulen, wie z.B. School Shootings, um äußerst seltene Ereignisse handelt (Cornell, 2004), sind die Folgen insbesondere für Betroffene derart gravierend, dass eine frühzeitige Verhinderung schwerer zielgerichteter Gewaltvorfälle an Schulen zwingend notwendig erscheint (Bondü & Scheithauer, 2009).

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2. Prävention durch Fokussierung auf frühzeitige Hinweise einer abweichenden Entwicklung

 

Untersuchungen haben gezeigt, dass schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen selten bzw. nie plötzlich und unvorhersehbar auftritt (Vossekuil, Fein, Reddy, Born & Modzelski, 2002). Vielerorts lassen sich Hinweise auf eine krisenhafte Entwicklung (z.B. Rache-/Gewaltfantasien), bisweilen sogar direkte Tatankündigungen im Vorfeld beobachten. So schrieb z.B. der Täter von Emsdetten bereits ca. zwei Jahre vor seiner Tat im Internet: „Für die, die es noch nicht genau verstanden haben: Ja, es geht hier um Amoklauf!" (Spiegel Online, 22.06.2006). Solche direkten wie auch indirekten Gewaltandrohungen werden in der Fachöffentlichkeit als Leaking (engl. für „leck(schlag)en“, „tröpfeln“) definiert (Scheithauer & Bondü, 2011).

 

Bedeutung von Leaking

Durch Leaking-Handlungen setzen Schüler Zeichen. Dabei kann Leaking als Hilferuf angesehen werden, mit dem manche Schüler bewusst, andere dagegen weniger bewusst versuchen, auf mögliche Probleme und Krisen aufmerksam zu machen. Retrospektive Fallanalysen haben gezeigt, dass Leaking meistens im Vorfeld einer Tat beobachtbar ist (Robertz, 2004; Vossekuil et al., 2002). Somit ist Leaking ein Ansatzpunkt für eine frühzeitige Prävention schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen bzw. fehlangepasster Entwicklungsverläufe von Schülern.

 

Leaking kann auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden: Es kann als direkte Tatankündigung (z.B. in einem Chatroom: „Ich habe Lust, ein paar Leute an der Schule abzuknallen.“) erfolgen. Häufig wird Leaking jedoch eher indirekt weitergetragen (z.B. exzessiver Konsum gewalthaltiger Medien, Schulversagen, wiederholt auffälliges Verhalten, Rache- oder Gewaltfantasien). Zudem sind Schulen oft mit nicht ernsthaften Drohungen konfrontiert. Daher stellt die Einschätzung von Leaking-Handlungen eine äußerst verantwortungsvolle und gleichzeitig sehr schwierige Aufgabe dar. So gilt es, Stigmatisierungen und unangebrachte negative Folgen für Betroffene zu vermeiden. Gleichzeitig dürfen Mitschüler, Lehrer sowie weiteres beteiligtes Personal durch eine Bagatellisierung vorhandener ernsthafter Androhungen nicht gefährdet werden.

 

Die Wahrung dieser Balance ist äußerst komplex. Aus diesem Grund unterstützen wir mit unserer Expertise im Rahmen des Projektes NETWASS – Networks Against School Shootings - das Schulpersonal, damit Schule auch in Zukunft als ein sicherer Ort erlebt und gelebt wird!

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3. NETWASS und die frühzeitige Prävention schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen

 

Eine frühzeitige Prävention zielt gemäß des bisherigen internationalen Forschungsstandes auf die frühzeitige Wahrnehmung von Hinweisen auf eine krisenhafte Entwicklung, eine angemessene und zeitnahe Beurteilung dieser sowie die rechtzeitige Einleitung adäquater, an den Bedürfnissen orientierter Interventionsmaßnahmen ab. Die krisenhafte Entwicklung eines Schülers in Richtung einer schweren zielgerichteten Gewalttat lässt sich prinzipiell aufgrund auffälliger Hinweise rechtzeitig erkennen.

 

Im Rahmen des NETWASS-Projektes wurden Schulungskonzepte erarbeitet, die Lehrer und weiteres pädagogisches Personal bei der frühzeitigen Prävention schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen unterstützen. Dabei basiert unser Ansatz unter anderem auf Verfahren der sogenannten „Bedrohungsanalyse“, mit denen in den USA bereits sehr positive Erfahrungen an Schulen gesammelt wurden (Cornell, 2004; Vossekuil et al., 2002). NETWASS baut zudem auf dem Berliner Leaking-Projekt auf. Zusätzlich wurden am Arbeitsbereich an der Freien Universität Berlin deutsche Fälle schwerer zielgerichteter Schulgewalt in den Jahren 1999 bis 2007 auf Grundlage polizeilicher Ermittlungsakten untersucht.

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4. Projektziele

 

In Abgrenzung zu anderen Präventionsprogrammen wird bei NETWASS keine direkte Beurteilung der Gefährlichkeit einer Person mittels einfacher Risikoeinschätzungen vorgenommen.

Vielmehr werden betroffene Personen, wie das pädagogische Schulpersonal, befähigt, im Rahmen des installierten Krisenpräventionsteams einen systematischen und interaktiven Prozess zu gestalten, in dem Kinder und Jugendliche in Krisensituationen frühzeitig identifiziert und breit gefächerte Informationen zu ihnen eingeholt werden.

Im Vordergrund steht somit ein Ansatz, bei dem das soziale Netzwerksystem befähigt wird, möglichst frühzeitig erste Anzeichen bei Schülern zu erkennen, die auf psychosoziale Notlagen hindeuten können.

 

Auf diese Weise sollen langfristig Schüler und Schulpersonal vor schwerer zielgerichteter Schulgewalt geschützt werden. Durch die indizierte Verbesserung des Umgangs mit ersten Hinweisen auf fehlangepasste Entwicklungstendenzen und Bedrohungen soll zudem die objektive und subjektive Sicherheitslage an deutschen Schulen verbessert werden, so dass Schule als sicherer Ort erlebt und gelebt werden kann.

 

Einbindung weiterer Professionen in das Krisenpräventionsteam

Interdisziplinäre, professionelle Netzwerke sind bisher wenig miteinander vernetzt und systematisch in die Schulen zur Gefahrenerkennung und –abwehr eingebunden. Daher empfehlen wir bei der Bildung eines Krisenpräventionsteams explizit die Einbindung weiterer Professionen, wie z.B. des Schulpsychologischen Dienstes, der Polizei, der Schulsozialarbeit etc. Jede Profession hat spezifische und wichtige Kompetenzen, deren Einbindung eine adäquate Beurteilung maladaptiver Entwicklungstendenzen erleichtern und ggf. verbessern kann. Zudem sind weitere Professionen (z.B. Polizei) in einem Ernstfall, wie z.B. einem School Shooting, an der Verhinderung weitreichender Folgen beteiligt. Eine frühzeitige Einbindung kann die Arbeit in einem Ernstfall zusätzlich erleichtern.

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5. Implementationsbedingungen des NETWASS-Schulungskonzeptes

 

Die Schulungen werden in den drei Bundesländern Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg in Form eines quasi-experimentellen Vergleichsgruppendesigns durchgeführt. Insgesamt gibt es vier Schulungsbedingungen, welche sich in den drei Bundesländern unterschiedlich aufgliedern. Pro Bundesland werden die Schulungen z.B. von Mitarbeitern des NETWASS-Programms, Schulpsychologen bzw. Jugendsachbearbeitern der Polizei, mit Hilfe einer Informationsbroschüre oder in einem Onlineformat durchgeführt.

 

1)      Broschürenbedingung:
Die Mitarbeiter des NETWASS-Projektes besprechen mit dem pädagogischen Schulpersonal eine umfangreiche Informationsbroschüre. Auf diese Weise wird das teilnehmende Schulpersonal dazu befähigt, selbstständig ein Krisenpräventionsteam zu bilden und alle weiteren nötigen Schritte zur Prävention
schwerer zielgerichteter Schulgewalt einzuleiten.

 

2)      Direkte Trainingsbedingung:
Die Mitarbeiter des NETWASS-Projektes führen eine spezifische Schulung des Krisenpräventionsteams durch. Anschließend wird das gesamte pädagogische Personal der jeweiligen Schule mit Informationen von den Mitarbeitern des NETWASS-Projektes versorgt.

 

3)      Multiplikatorenbedingung:
In dieser Bedingung werden Multiplikatoren durch die Mitarbeiter des NETWASS-Projektes zu NETWASS-Trainern ausgebildet. Je nach Bundesland handelt es sich dabei um Schulpsychologen oder Polizeibeamte. Diese bilden dann entsprechend der direkten Trainingsbedingung das schulische Krisenpräventionsteam fort. Aus dem Krisenpräventionsteam bildet dann der sogenannte Ansprechpartner Krisenprävention das gesamte pädagogische Personal der jeweiligen Schule fort.

 

4)    Onlinebedingung:
Teilnehmende Schulen werden dazu angehalten, über eine E-Learning-Plattform selbstständig die Schulungsmaterialien durchzuarbeiten und diese im Anschluss an ihrer Schule umzusetzen.

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6. Evaluationsdesign von NETWASS

 

Im Rahmen des NETWASS-Projektes wird die praktische Umsetzung der unterschiedlichen Fortbildungsangebote an den Schulen evaluiert. Auf diese Weise soll die Wirksamkeit, Durchführbarkeit und Akzeptanz des Fortbildungsangebotes überprüft sowie langfristig sichergestellt und die am meisten geeignete Schulungsbedingung identifiziert werden. Dabei ist die Programmevaluation als summative Evaluation mit formativer Entwicklungsphase konzipiert. Dafür wird an drei Messzeitpunkten das an der Schulung teilnehmende pädagogische Personal befragt:

Zur Erfassung der Baseline erfolgt eine prä-Testung unmittelbar vor der Schulungsdurchführung. Zeitnahe Veränderungen werden mit Hilfe einer post-Testung ca. zwei Wochen nach der Schulung erfasst. Für die Ermittlung längerfristiger Veränderungen erfolgt eine follow-up-Testung nach sechs bis neun Monaten.

 

Im Rahmen der durchgeführten Befragungen erhoffen wir uns zudem einen Informationsgewinn zum Leaking-Phänomen, um genauer beschreiben zu können, unter welchen Bedingungen es z.B zu Leaking-Handlungen kommt, wie häufig Schulen mit diesen konfrontiert werden und wie und wann diese überhaupt erkannt werden etc.

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7. Definitionen

 

Schwere zielgerichtete Gewalt:

Gezielte Angriffe eines (ehemaligen) Schülers auf ein oder mehrere mit der Schule assoziierte/s Opfer, bei denen der Schulkontext bewusst als Tatort gewählt wurde. Schwere zielgerichtete Schulgewalt ist von eher alltäglichen Erscheinungen von Gewalt und Aggression im Schulkontext wie Bullying, Prügeleien auf dem Schulhof oder Erpressung zu unterscheiden.

 

School Shootings:

Bei School Shootings „handelt es sich um zielgerichtete, bewaffnete Angriffe mit Tötungsabsicht auf Lehrer oder Mitschüler, bei denen entgegen dem etwas irreführenden Begriff nicht nur Schusswaffen zum Einsatz kommen können, sondern z.B. auch Klingenwaffen, stumpfe Gegenstände oder Bomben“. School Shootings stellen die schwerste Art zielgerichteter Schulgewalt dar.

Ausgenommen von der Definition sind Taten, die sich aus der Auseinandersetzung von Gruppen ergeben oder die unmittelbar aus einem Konflikt zwischen Einzelpersonen entstehen.

 

Amoklauf:

„Die intentionale und nach außen hin überraschende Tötung und/oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden“.

 

Leaking:

Leaking leitet sich vom englischen Wort „to leak“ (leck(schlag)en, durchsickern) ab und versinnbildlicht Tatankündigungen des potentiellen Täters, bei denen dieser seine Tatfantasien und –planungen „durchsickern“ lässt.

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8. Ausgewählte Literatur

 

Bannenberg, B. (2010). Amok: Ursachen erkennen - Warnsignale verstehen - Katastrophen verhindern. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Bondü, R., Meixner, S., Bull, H.D., Robertz, F.J. & Scheithauer, H. (2008). Schwere, zielgerichtete Schulgewalt: School Shootings und „Amokläufe“. In H. Scheithauer, T. Hayer & K. Niebank (Hrsg.): Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter. Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag.

Bondü, R. & Scheithauer, H. (2009). School Shootings in Deutschland: Aktuelle Trends zur Prävention von schwerer, zielgerichteter Gewalt an deutschen Schulen. Praxis Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 58, 685-701.

Cornell, D.G., Sheras, P.L., Kaplan, S., McConville, D., Douglass, J, Elkon, A., McKnight, L., Branson, C., Cole, J. (2004). Guidelines for student threat assessment: field-test findings. School Psychology Review, 33, 527-546.

Fein, R., Vossekuil, B., Pollack, W., Borum, R., Modzeleski, W. & Reddy, M. (2002). Threat assessment in schools: A guide to managing threatening situations and to creating safe school climates. U.S. Secret Service and U.S. Department of Education.

Heubrock, D., Hayer, T., Rusch, S. & Scheithauer, H. (2005). Prävention von schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen – Rechtspsychologische und kriminalpräventive Ansätze. Polizei & Wissenschaft, 1, 43-57.

Hoffmann, J. (2003). Amok - ein neuer Blick auf ein altes Phänomen. In C. Lorei (Hrsg.), Polizei und Psychologie. Kongressband der Tagung "Polizei & Psychologie" am 18/19. März 2003 in Frankfurt am Main (S. 397-414). Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft.

Leuschner, V. et al. (2011). Prevention of homicidal violence in schools in Germany: The Berlin Leaking-Project and the Networks Against School Shootings-Project (NETWASS). New Directions for Youth Development. Nr. 121, pp. 61-78.

Robertz, F.J. (2004). Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft. 

Scheithauer, H., Bondü, R. (2011). Amoklauf und School Shooting: Bedeutung, Hintergründe und Prävention. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Vossekuil, B., Reddy, M., & Fein, R.A. (2000). An Interim Report on the prevention of targeted school violence in school. Washington: U.S. Secret Service and U.S. Department of Education.

Vossekuil, B., Fein, R.A., Reddy, M., Borm, R., & Modzelski, W. (2002). The final reportand findings of the Safe School Initiative: Implications for the prevention of school attacks in the United States.Washington: U.S. Secret Service and U.S. Department of Education.

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Bundesministerium für Bildung und Forschung