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Projektbeschreibung

Teilprojekt B5

 

Pädagogische Gesten in Schule, Familie, Jugendkultur und Medien

 

Vierte Projektphase (2008-2010):

Im Anschluss an die bisherigen Untersuchungen werden die Bedeutung von Gesten im pädagogischen Handeln und das pädagogische Potential von Gesten untersucht. Schon in den bisherigen Forschungen wurde deutlich, dass Gesten in pädagogischen Kontexten bei der Vermittlung und Aneignung von Wissen eine große Rolle spielen, und dass der Körper als Medium der Erkenntnis fungiert, der es ermöglicht, praktisches Wissen im mimetischen Nachvollzug anzueignen. Forschungsschwerpunkt der Projektphase 2008-2010 ist das bisher kaum thematisierte pädagogische Potential von Gesten. Dabei werden Gesten als wiederholbare Bewegungen von Körpern oder einzelner Körperteile, als Praktiken körperlicher Darstellung aufgefasst, die in pädagogischen Kontexten im prinzipiell unabgeschlossenen Prozess der Bedeutungsgenerierung signifikant werden können. Es wird untersucht, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede Gesten in den vier Sozialisationsfeldern in Prozessen der Vermittlung von Wissen und Regeln sozialen Verhaltens besitzen und wie pädagogische Gesten durch ihre unterschiedliche institutionelle Einbettung in ihrer performativen Wirkung differieren.

Es wird ferner untersucht, wie Gesten in pädagogischen Kontexten die Körper der Lehrenden und Lernenden als Medium der Wissensvermittlung sichtbar machen und als Praktiken körperlichen Verhaltens die soziale Kommunikation in den Sozialisationsbereichen Schule, Familie, Peerkultur und Mediennutzung grundlegend prägen. Sowohl im engeren pädagogischen Rahmen der Schule als auch in den offeneren Lern-, Erziehungs- und Bildungskontexten von Familien, Peerkulturen und Praxen der Mediennutzung wird untersucht, wie Gesten zu pädagogischen Gesten werden und nicht nur intentional, sondern auch unwillkürlich und unbeabsichtigt ihre pädagogische Wirksamkeit entfalten.

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Unterprojekt Schule

In Weiterführung der bisherigen Untersuchungen über den performativen Charakter von Unterricht und Schule wird untersucht, welchen Einfluss Gesten bei der Aneignung und Vermittlung konkreter Bildungsinhalte und Verhaltensmuster haben. Ziel dieses Unterprojekts ist es zu zeigen, wie Gesten zur Gestaltung und Steuerung von Unterrichtsprozessen beitragen.

Die unterschiedlichen Perspektiven der am Unterricht Beteiligten bewirken einen vielschichtigen Unterrichtsprozess, in dem verbale wie nonverbale Interaktionen sich zu Gesten verdichten. Gesten tragen als körperliche Praktiken zur Sinnkonstitution im Unterricht bei, steuern den Unterrichtsverlauf und beeinflussen maßgeblich die Aneignung reflexiven und praktischen Wissens, wobei auch in Sprechakten über körperliche Merkmale wie Mimik, Haltung und Stimme der Sprechenden Bedeutung generiert wird und Inhalte transportiert werden. Im Vergleich zwischen unterschiedlichen Unterrichtsformen – wie Einzelarbeit, lehrerzentrierte Phasen, Gruppenlernen, offene Unterrichtsphasen und Projektunterricht – wird der Zusammenhang zwischen didaktischer Rahmung, den Praktiken des Umgangs mit dinglichen Unterrichtsrequisiten und der Einnahme und Gestaltung von Lernterritorien sowie den verbalen und nonverbalen Interaktionen analysiert. Die Generierung pädagogischer Gesten und ihre Bedeutung und Funktion im Unterrichtsprozess werden aus diesem Zusammenhang heraus empirisch rekonstruiert.

Im Zentrum der ethnografischen Untersuchung stehen folgende Fragen:

(1) Wie zirkulieren Gesten zwischen den beteiligten Unterrichtsakteuren? Welche Rolle spielen Gesten bei der Vermittlung von Unterrichtsinhalten und inwieweit werden vom Unterrichtsstoff unabhängige Inhalte mit Hilfe von Gesten kommuniziert? Wie bringen pädagogische Gesten Verhaltensmuster zur Darstellung, die in mimetischen Prozessen inkorporiert sowie im sozialen Umgang miteinander angewendet werden?

(2) Welche gestische Dynamik besteht zwischen Lehrern und Schülern im Unterricht? Wie beeinflussen Gesten von Schülern das Verhalten des Lehrers oder der Lehrerin und vice versa? Welche Gesten ziehen verstärkt die Aufmerksamkeit, Zuwendung, Missachtung oder Anerkennung der Lehrerinnen und Lehrer auf sich? Wie wirken sich Gesten auf die Aneignungsprozesse im Unterricht aus, welche fördern oder behindern Kooperation bzw. Konkurrenz? Wie hängen Gesten mit Praktiken der Leistungsbewertung zusammen?

(3) Welche Rolle spielen Gesten bei der Anerkennung pädagogischer Autorität von Lehrern und Lehrerinnen und mit welchen körperlichen Praktiken handeln die Schüler untereinander Autoritätsansprüche aus? In welcher Weise zeigt sich in Gesten die Anerkennung oder Subversion institutioneller Normen und Regeln? Wie und mit welcher Wirkung bearbeiten Schülerinnen und Schüler in altersheterogenen Stammgruppen soziale und kulturelle Differenzen mit Hilfe von Gesten?

(4) Wie hoch ist der Reflexionsgrad des nonverbalen Verhaltens und der Bedeutung und Funktion von Gesten im Unterricht – sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern? Wie bewusst versuchen Lehrerinnen und Lehrer über körperliche Interaktionen Unterrichtsprozesse zu steuern und das Verhalten von Schülern zu beeinflussen? Welche didaktischen und darüber hinausgehenden pädagogischen Ziele verfolgen sie damit?

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Unterprojekt Familie

Bisher wurde in den Analysen von Alltagsritualen, Festritualen sowie familialen Lernkulturen untersucht, wie das wechselseitige Bearbeiten von Generations- und Geschlechterdifferenzen durch unterschiedliche performative Umgangsstile geprägt ist. In diesen Untersuchungen waren die Körperlichkeit der Interaktionen und die räumlich-materiellen Arrangements stets im Zentrum der Analysen.

Daran anschließend soll untersucht werden, wie Gesten in Familien pädagogisch wirksam werden. Auf Grundlage der früheren Studien des Teilprojekts wird davon ausgegangen, dass die Gesten der Familienmitglieder die pädagogischen Beziehungen beeinflussen und Gesten einen wesentlichen Anteil an der familialen Erziehung und an dem emotionalen "Klima" in der Familie haben. Sie setzen Interaktionsprozesse in Gang oder schränken sie ein; sie bieten Möglichkeiten zur Bezugnahme und zur Intervention in Interaktionsabläufe. Gesten können einerseits bewusst und zielgerichtet für erzieherische Prozesse genutzt werden (z.B. indem Zuneigung oder Interesse, ein Vormachen von Fähigkeiten, eine Lenkung der Aufmerksamkeit oder disziplinierende Strenge in Szene gesetzt werden). Gesten haben andererseits aber auch einen nicht intendierten und unbeachteten Einfluss auf die individuellen Orientierungen und familialen Beziehungen.

Folgende Fragestellungen sind für das Unterprojekt Familie forschungsleitend:

(1) Wie werden Gesten zur Steuerung, Regulierung oder Umlenkung von Aufmerksamkeit und Verhalten genutzt? Inwiefern sind diese Gesten graduell bestimmt oder unbestimmt? In welcher Hinsicht kann von einem Gelingen oder Fehlschlagen pädagogischer Gesten gesprochen werden?

(2) Wie verhält sich der Gebrauch von Gesten zu den Machtbeziehungen zwischen den Familien­mitgliedern und zu deren jeweiliger körperlicher Präsenz? Wie zeigt sich in den Gesten Emotionalität im Spielraum von Zuneigung oder Zurückweisung, Er- oder Entmutigung, Lob oder Maßregelung?

(3) Lassen sich in Hinsicht auf Gesten Familienstile rekonstruieren? Kommen bestimmte Gesten privilegiert zur Geltung? Wie wirkt sich das jeweilige "soziale Setting" in Situationen "vor anderen" auf den Gebrauch von Gesten aus?

(4) Wie werden pädagogische Gesten von den Familienmitgliedern reflektiert? Was für Zusammenhänge bestehen zwischen einem reflexiven Wissen über den pädagogischen Einsatz von Gesten und der Erziehungspraxis?

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Unterprojekt Jugend

In der vergangenen Projektphase konnte im Falle des Break- und Streetdance anschaulich herausgearbeitet werden, wie wichtig körperliche Praktiken für die soziale Interaktion und Wissensvermittlung in der Jugendkultur sind. Um diese Zusammenhänge zu überprüfen und zu differenzieren, sollen nun Gesten im Feld der Pop- und Rockkultur untersucht werden.

 Die Rock- und Popmusik spielt eine zentrale Rolle für die Sozialisation von Jugendlichen. Bisher konzentrierten sich die Analysen in diesem Feld allerdings weitgehend auf den symbolischen Gehalt von Songtexten, Mediendarstellungen und Musikvideos. Zu Konzerten existieren kaum Untersuchungen. Ausgehend von der rituellen und performativen Dimension von Rock- und Popkonzerten werden in diesem Teilprojekt die gestischen Vollzüge zwischen Zuschauern und Musikern sowie innerhalb von Bands analysiert. Wir untersuchen, wie mimetische Bezugnahmen zwischen dem Publikum und den Musikern gestaltet werden, wie sich Publikum und Musiker gestisch aufeinander beziehen, und wie Gesten oder typische Posen zwischen dem Publikum und den Musikern zirkulieren. Aus pädagogischer Perspektive ist dieser Aspekt der Rock- und Popkultur bedeutsam, weil die Musiker und Zuschauer während der Konzerte implizit ein soziales Verhalten einüben und Konzerte bedeutsame Bildungsprozesse auslösen können. Das (praktische) Wissen, welches sie sich dabei aneignen, wird zu einem erheblichen Anteil über Gesten vermittelt. Davon ausgehend ist zu fragen, inwieweit Gesten in diesem Rahmen aus- bzw. aufgeführt, auf welche Weise sie dabei autorisiert und tradiert werden und welche Wirkungen sie entfalten.

Zur Bearbeitung unserer Fragestellungen werden wir zum einen videogestützte und teil­neh­mende Beobachtungen im Rahmen von Rock- und Popkonzerten sowie narrative und leit­fadengestützte Interviews und Gruppendiskussionen mit involvierten jugend­lichen Fans und Mitgliedern von Bands und Musikern aus dem Pop- und Rockbereich durch­führen. Folgende Fragen sind dabei leitend:

(1) Welche Gesten übernehmen innerhalb der Dynamik der jeweils untersuchten Perfor­mances welche Funktion und wie werden sie ausgeführt?

(2) Inwiefern entfalten Gesten, die im Rahmen von Rock- und Popkonzerten ausgeführt wer­den, handlungsleitende Wirkungen bei den Fans und den jugendlichen Bands und Musikern? Inwiefern werden durch mimetische Bezugnahmen auf Gesten spezifische Bildungserlebnisse hervorgerufen und soziale Verhaltensweisen eingeübt?

(3) Auf welche Weise müssen Gesten von den Ausführenden vollzogen werden, um Aner­kennung zu erlangen? Inwiefern geht es im Bereich der Jugendkultur um die Aneignung und Habitualisierung eines gestischen Wissens: eines Wissens um die Bedeutungen und den Ge­brauch von Gesten zur Anerkennung und Positionierung in sozialen Kontexten?

(4) In unmittelbarer Verbindung damit soll untersucht werden, inwiefern das pädagogische Potential von Gesten an den Stil ihrer Aufführung gebunden ist.

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Unterprojekt Medien

Bisher war die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körperbild in verschiedenen medial-pädagogischen Lernkontexten (PC-Unterricht, Foto-Online-Community) eine zentrale Thematik. Das "Bild vom Körper" wurde selbst zum Medium oder in das Medium transferiert und offerierte dadurch nicht nur eine (technisch) konkrete Bearbeitung des Körperbildes, sondern ermöglichte (wie etwa das Foto im PC) zunächst einmal die Reflexion des eigenen Körperbildes, die Erfahrung vom Körper als Bild (Lacan, Agamben, Widmer), als Simulation (Baudrillard, Kamper) und vom Körper als Medium (Belting). Welche Möglichkeiten der Reflexion aber produzieren neue Game-Praxen (Second Life, Online Role-playing) mit ihrer virtuell-motorischen Simultanität?

Durch Gesten wird die Verbindung zwischen Körpern und Medien (als Apparate) offenbar: Monitor und Maus bilden die Schnittstelle, über die vermittelt die Hand-Auge-Koordination verläuft. Dieses Interface ist eine Kopplungsstelle oder Berührungsfläche zur Umwandlung von Information, wobei Gesten als performative Aufführung außerhalb des Apparats die Operationen im Inneren begleiten.

Symbolische Operationen werden durch die Weiterentwicklung der Technologien zunehmend an sensorische Fähigkeiten (Gesten) rückgekoppelt. Gesten werden in den neueren Computerspielen gleichzeitig im virtuellen Spiel sowie außerhalb vollzogen und beeinflussen sich in ihrer Wirkung gegenseitig. Die Analyse von Gesten in Praxen der Mediennutzung soll dies verdeutlichen. Die Entwicklung der Neuen Medien ermöglicht es, des eigenen Körperbildes (Fotographie) und seiner Bewegungen habhaft zu werden (Video) oder eine Identität im Virtuellen zu entfalten (Roletaking-Games, Online-Communities wie Second Life), indem phantasmatische Körper im virtuellen Raum erzeugt werden. Dabei verführen Gesten zur Verkennung des Körpers, indem sie die motorische Kopplung von body-schema und body-image suggerieren. Gesten unterstützen einerseits diese Verkennung, können sie aber auch stören, indem sie verdeutlichen, dass der Körper als Ganzes ein Bild ist, das wir nicht erfassen können und das sich immer wieder entzieht. Untersucht wird, inwiefern diese Verkennung der eigenen Fähigkeiten in der medialen Spiegelung im Digitalbild zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen werden kann. Die Reflexionen solcher medialer gestischer Praxen verweist auf folgende Forschungsfragen:

(1) Inwiefern visualisieren, verfremden und potenzieren Medien Körperbilder?

(2) Inwieweit generieren Gesten in medialen Räumen/Spielen Bedeutungen für die techno-soziale Interaktion?

(3) Verstärkt die Feedbackschleife „Geste-Medium-Körperbild“ die Fiktion der Beherrschbarkeit des Körpers und damit die Verkennung der eigenen Fähigkeiten?

(4) Inwieweit bieten die techno-sozialen Interaktionen im Feld mit ihren Praxen der Herstellung von Autorität und Kompetenz Anschlüsse für die Generierung pädagogischer Handlungsräume? Lassen sich diese als pädagogisch rahmen?

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