Aktuelle iF-Schriftenreihe: Naomi Shulman "Krisenzeiten"
Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine Krise ausgelöst, deren Bewältigung in Olaf Scholz' Worten eine "Zeitenwende" voraussetzt. Naomi Shulman analysiert in der aktuellen iF-Schriftenreihe den Krisenbegriff und seine Bedeutung für Zukunftsvisionen. In einem Fallbeispiel interpretiert Naomi Shulman die Rede zur Zeitenwende von Olaf Scholz. Dabei zeigt sie die Chancen und die Probleme eines auf dem Krisenbegriff gründenden Zukunftsentwurfs auf.
News vom 23.04.2024
Naomi Shulman analysiert den Krisenbegriff und seine Bedeutung für den soziopolitischen Denkrahmen von Zukunftsvisionen. Einführend untersucht die Arbeit die Implikationen des Krisenbegriffs und beschreibt, wie dieser in öffentlichen Narrativen besondere Wirkmacht entfaltet. Eine hermeneutische Interpretation der ersten „Rede zur Zeitenwende“, in der Olaf Scholz die zukunftsprägenden Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine adressiert, veranschaulicht sowohl die Chancen als auch die Probleme eines auf dem Krisenbegriff gründenden Zukunftsentwurfs. Insbesondere zeigt die Interpretation auf, dass Scholz den Krisenbegriff als ‚Zeitenwende‘ neu formuliert, um so die erfolgreiche Bewältigung der Krise narrativ vorwegzunehmen und zu suggerieren, dass die Zukunft nach der Krise sowohl im normativen als auch im epistemischen Sinn gesichert ist.
Die Arbeit verfolgt zwei wesentliche Ziele. Zum einen soll sie aufzeigen, inwiefern der Krisenbegriff den erkenntnistheoretischen Denkrahmen möglicher Zukünfte setzt und damit ein besonderes Zeitverständnis formt. Zum anderen soll sie die soziopolitischen Implikationen eines solchen krisengeprägten Zukunftsdenkens problematisieren. Als Behauptung einer bereits bewältigten Krise verdeutlicht das Narrativ der ‚Zeitenwende‘ einerseits, dass Zukunftssicherheit – in Form einer einzig möglichen und einig gewünschten Zukunft – zur legitimierenden Grundlage nationaler Deutungshoheit und politischer Handlungsmacht wird. Andererseits blendet ein solches Narrativ, das zukunftssichere Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit als Antwort auf die Krise betont, alternative Zukunftsentwicklungen nicht nur aus, sondern lässt sie sogar undenkbar werden. Abschließend reflektiert diese Arbeit deshalb kritisch die Grenzen des Denkrahmens öffentlich wirkmächtiger Narrative, welche die Krise zum Ausgangspunkt eines Zukunftsentwurfs im Namen einer bestimmten und einigen Gemeinschaft machen.
Kostenlos online verfügbar unter: https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/43339/iF-Schriftenreihe_02-24_Naomi%20Shulman-Krisenzeiten.pdf?sequence=1&isAllowed=y