Psychosoziale Befindlichkeit und Probleme der Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen in Berlin
- Mittelgeber: Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, berufliche Bildung und Frauen
- Laufzeit: 15.10.1995 - 14.10.1997
- Projektleitung: Prof. Dr. Dieter Kleiber
- Bearbeiter: Dipl.-Psych. Herbert Beckmann, Dr. Rainer Metz
Vorläufige Ergebnisse
In Berlin leben nach Auskunft der Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie derzeit mindestens 2500 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Dies sind trotz der zwischenzeitlich geänderten asylrechtlichen Rahmenbestimmungen in Deutschland fast doppelt so viele Jugendliche wie noch im Jahre 1992. Diese minderjährigen Flüchtlinge kommen ohne elterliche Begleitpersonen nach Deutschland, überwiegend aus den Kriegs- und Krisengebieten des ehemaligen Jugoslawien, aus dem Libanon, Angola, Rumänien und vielen anderen Staaten.
Immer wieder berichten Praktiker/innen der staatlichen und nichtstaatlichen Jugendhilfe über die enorme psychische Belastung, unter der besonders die Gruppe unbetreuter Jugendlicher zu stehen scheint - zum Teil gilt dies aber auch für Minderjährige, die in Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland geflohen sind.
Es fragt sich daher, in welcher psychosozialen Verfassung sich diese Minderjährigen nach Flucht, Vertreibung und in Anbetracht eventueller Gewalterfahrungen im Aufnahmeland befinden und wie sie ihrer Situation angemessen am besten psychosozial unterstützt und gefördert werden sollten.
Die Probleme dieser Personengruppe junger Flüchtlinge werden fortdauern und sich womöglich noch verschärfen, da wir es aufgrund der Krisenregionen in der Welt, nicht zuletzt auch in Osteuropa, mit in der Nachkriegszeit völlig neuartigen Migrationsformen (eben auch Flucht und Asylsuche) zu tun haben, auf die wir hierzulande gesellschaftlich noch unzureichend eingerichtet sind.
Minderjährige Flüchtlinge können aus humanitären Gründen nicht in gleicher Weise wie Erwachsene behandelt werden; asylrechtlich fallen minderjährige Asylbewerber nicht unter das übliche Asylverfahren, sie müssen untergebracht werden und haben Anspruch auf eine ihrer Situation gemäße Versorgung, die eben auch psychosoziale Hilfen beinhalten sollte.
Die Freie Universität hat daher mit der o.a. Maßnahme die Förderung von Arbeiten beantragt, um geeignete Hilfen für diese Personengruppe fachlich begründen und ggf. initiieren zu helfen.
Im Zeitraum 15.10.1995 - 14.10.1996 wurde in folgenden Arbeitsschritten vorgegangen:
- In qualitativen Interviews mit Praktiker/innen relevanter Jugendhilfeeinrichtungen wurden zunächst einmal die Problemlagen minderjähriger Flüchtlinge aus der professionellen Betreuungsperspektive sondiert. Zugleich wurde der Kontakt genutzt, um "Türöffner" für die angestrebten qualitativen Interviews mit jugendlichen Flüchtlingen zu finden.
Nach den Berichten von Experten kann die psychosoziale Situation von minderjährigen Flüchtlingen stark verkürzt folgendermaßen zusammengefaßt werden:
Nach der Flucht finden sich die jungen Flüchtlinge in einem ihnen fremden Migrationsland wieder. Ihr Grunderlebnis ist das der Entwurzelung: Sie wurden aus ihrem Familienverband gerissen, haben im Gedächtnis die militärischen oder politischen Auseinandersetzungen im Heimatland, haben Angst um zurückgebliebene Familienangehörige, Freunde, Verwandte; sie tragen womöglich die innere Verantwortung, als einzige/r in Sicherheit zu sein. Und sie sind angekommen in einem Land, dessen Sprache, Kultur und Menschen ihnen unbekannt sind.
So scheinen die jungen Flüchtlinge aufgrund von Verfolgung, Kriegs-, Folter- und anderen Gewalterfahrungen nicht selten physisch und psychisch an einer Reihe von Beschwerden wie Depressionen, Ängsten, Schlafstörungen, psychosomatischen Beschwerden, chronischen Kopfschmerzen zu leiden. Oftmals, so wird berichtet, fühlten sie sich grundlegend desorientiert und verloren, manchmal bis hin zum totalen Orientierungs- bzw. Realitätsverlust.
Asylsuchende werden in einem Verteilungsverfahren regional zugewiesen. Flüchtlinge in noch laufenden Asylverfahren sind verpflichtet, in Sammellagern zu leben. Kennzeichnend für die Situation von Asylsuchenden ist zudem eine nur begrenzte Arbeitserlaubnis sowie zunehmend auch die Praxis, ihnen Sozialhilfe nicht bar, sondern in Form von Lebensmittelgutscheinen auszuzahlen.
Die psychische Belastung - aufgrund des Verlusts der Heimat, der vertrauten Umgebung und Sprache, der gewohnten Kultur, aber auch aufgrund von politischer Verfolgung im Herkunftsland - scheint nun in Deutschland in den letzten Jahren noch durch die rechtsradikale Gewalt gegen Ausländer in Deutschland verschärft worden zu sein. Laut Verfassungsschutzberichten der vergangenen Jahre waren vorrangig Asylbewerber und ihre Unterkünfte die Ziele solcher Angriffe.
- An diesen vorläufigen Erkenntnisstand aufgrund von Literatur und Experteninterviews konnten sich nun konkrete Forschungsfragen im Hinblick auf die psychosoziale Befindlichkeit von jungen Flüchtlingen anschließen. Auf der Basis der Auswertung von Experteninterviews wurde daher ein Leitfaden für Gruppen- und Einzelinterviews mit minderjährigen Flüchtlingen erarbeitet, der zuvor in Probeinterviews getestet werden mußte.
Forschungspraktisch zeigte sich bereits, daß der Zugang zu den Betroffenen selbst mit der Unterstützung von Betreuer/innen grundsätzlich ein sehr behutsames Vorgehen erfordert, bei dem weniger sprachliche Probleme zu überwinden waren - hier lassen sich anscheinend meist unkompliziert Übersetzungshilfen auf verschiedenen Ebenen organisieren -, vielmehr ging es darum, um Vertrauen für das Vorhaben zu werben, da die Betroffenen aus der Erfahrung von Flucht und Migration heraus Grund hatten, in Befragungen, deren Ergebnisse sie nicht kontrollieren können, ein vorsichtiges, zurückhaltendes Informationsmanagement zu betreiben. Aus diesem Grund, so ein wichtiges Zwischenfazit der Probeinterviews, muß im Prozeß von Kontaktaufnahme und Vertrauenswerbung pro Interview zum Teil sehr viel mehr Zeit eingeplant werden, als dies sonst für qualitative Interviews üblich ist.
- Die zur Zeit durchgeführten Probeinterviews mit minderjährigen Flüchtlingen werden verschriftet und ausgewertet im Hinblick auf die Erstellung eines modifizierten Interview-Leitfadens, mit dem nun weitere Einzel- und zum Teil auch Gruppeninterviews durchgeführt werden können.
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