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Aus dem Bereich Zentrale Evaluation: Führt das Studium in Zeiten der Pandemie zu einer Verstärkung von Ungleichheiten? Ergebnisse eines Literaturreviews

24.11.2022

Welche Studierendengruppen waren durch die Pandemie besonderen Belastungen im Studium ausgesetzt und welche Faktoren könnten hierbei eine Rolle gespielt haben? Diesen Fragen wurde im Rahmen einer Bachelorarbeit mittels eines systematischen Literatur-Reviews nachgegangen. Hierbei zeigte sich, dass Studierende ohne akademischen Hintergrund („Studierende erster Generation“) häufig im Fokus standen. Hat die Studienabbruchintention bei dieser Gruppe zugenommen? Haben veränderte Bedingungen im Studium zu einer stärkeren sozialen Benachteiligung geführt? Im Ergebnis fand sich eine gemischte Befundlage: Während die Studienabbruchintention bei Studierenden erster Generation etwas stärker zunahm als bei Studierenden mit akademischem Hintergrund, kamen Studien zu abbruchfördernden oder -hemmenden Faktoren zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wir berichten im Folgenden über Methodik und Ergebnisse des Reviews.

Methodik

Die Recherche nach geeigneten Studien wurde in verschiedenen Datenbanken vorgenommen (ERIC pro quest, dem Bibliotheksportal der Freien Universität Berlin Primo, der Datenbank des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und des Deutschen Bildungsservers, sowie bei Google Scholar). Bei der Suche wurden mindestens zwei Schlüsselsuchbegriffe verwendet, wie beispielsweise „Corona“ und „Studienabbruch“. Die Studien sollten sich vor allem auf Bachelorstudierende ab dem zweiten Fachsemester in Deutschland fokussieren und in deutscher oder englischer Sprache verfasst sein. Außerdem wurde darauf geachtet, dass soziodemographische Merkmale (z. B. der Bildungshintergrund der Eltern) der Zielgruppe in den Studien mit erhoben wurden. Um die Suchergebnisse auf eine überschaubare Menge zu reduzieren, wurden die Ergebnisse nochmals gefiltert (u. a. nach Erscheinungsjahr, Titel oder Key-Word, Abstract, Zugänglichkeit), sodass schließlich 10 quantitative bzw. mixed-methods Studien in das systematische Literatur-Review einbezogen wurden. Hierbei wurden die Artikel inhaltlich analysiert, die im Hinblick auf die Forschungsfrage relevanten Informationen extrahiert und vergleichend gegenübergestellt, bevor auf dieser Basis eigene Schlussfolgerungen für die Forschungsfrage gezogen wurden.

Befunde zur Studienabbruchintention im Zeitvergleich

Eine Sichtung der Studien ergab, dass sich überhaupt nur zwei Arbeiten des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (Lörz et al., 2020; Lörz et al., 2021) direkt der Entwicklung der Abbruchintention widmeten. Beide Arbeiten nutzten dieselbe Datenbasis und können aufgrund des Designs als relativ belastbar eingestuft werden. Lörz und Kollegen haben zwei bundesweit repräsentative Studierendenbefragungen derart miteinander kombiniert, dass ein Trend zwischen 2016 und 2020 untersucht werden konnte. Die Abbruchintention wurde dabei über folgende Frage erhoben: Inwieweit denken Sie zurzeit daran, das Studium ganz aufzugeben. Die fünf Antwortmöglichkeiten reichten von „gar nicht“ bis „sehr häufig“. Im Artikel aus dem Jahre 2021 wurde der Anteil der Studierenden betrachtet, der mit „sehr häufig“ geantwortet hat. Es zeigte sich eine generelle Zunahme der Studienabbruchintention zwischen 2016 und 2020. Offenbar verschärfte die Pandemie also die Situation der Studierenden insgesamt. Darüber hinaus fanden die Autoren jedoch auch eine stärkere Zunahme der Abbruchintention bei Studierenden erster Generation. Diese betrug zwar nur einen Prozentpunkt, war aber dennoch statistisch signifikant. Dies deutet auf eine leichte Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Zeitverlauf hin. In dem Artikel, den Lörz und Kollegen Im Jahre 2020 publiziert haben, fand sich dieser Effekt überraschenderweise nicht. Allem Anschein nach waren methodische Aspekte hierbei von Bedeutung: So ging die Variable Abbruchintention mit allen fünf Antwortstufen „gar nicht“ bis „sehr häufig“ in die Analysen ein, was die Uneinheitlichkeit der Befunde bewirkt haben könnte.

Befunde zu studienabbruchfördernden bzw. hemmenden Faktoren

Die anderen acht Arbeiten nahmen Faktoren in den Blick, von denen angenommen werden kann, dass sie den Studienabbruch fördern oder hemmen. In zwei dieser acht Arbeiten wurden diese Faktoren (finanzielle Situation, Belastungserleben) auch mit der Studienabbruchintention in Beziehung gesetzt. Sämtliche dieser acht Arbeiten basieren auf Querschnittsdaten, die während der Pandemie erhoben wurden. Mit diesen Designs lassen sich kausale Effekte der Pandemie zwar nicht streng prüfen. Sie erlauben jedoch eine Beschreibung der Situation von Studierenden erster Generation während der Pandemie.

Generell zeigt der bestehende Forschungsstand, dass die Gründe für einen Studienabbruch vielfältig sind (Blüthmann et al., 2012; Neugebauer et al., 2019). Studierende erster Generation werden hierbei zu einer sogenannten „vulnerablen Gruppe“ gezählt, der allgemein ein erhöhtes Abbruchrisiko zugesprochen wird (Heublein et al., 2017). Dabei werden u. a. die Finanzierung des Studiums oder auch die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Studium als Risiken für einen Abbruch benannt (Bargel & Bargel, 2010; Büchler, 2012). Während der Pandemie kann sich die Situation der Studierenden erster Generation durch den Wegfall studentischer Nebenjobs oder Kurzarbeit der Eltern verschärft haben (z.B. Becker & Lörz, 2020). Zimmer und Thies (2021) beschäftigten sich mit möglichen Ursachen für die höhere Abbruchintention von Studierenden erster Generation (im Vergleich zu Studierenden mit einem akademischen Bildungshintergrund). In ihrer im digitalen Sommersemester 2020 durchgeführten Untersuchung, basierend auf den gewichteten Daten der Studie "Studieren in Zeiten von Corona" (DHZW, 2020), fand sich eine höhere Studienabbruchintention bei Studierenden erster Generation. Diese konnte nahezu vollständig durch die subjektiv eingeschätzte erschwerte finanzielle Lage erklärt werden. Besa et al. (2021) erfassten im Zusammenhang mit dem pandemiebedingten Belastungserleben im Studium auch die Studienabbruchneigung. Dabei berichteten Studierende erster Generation deskriptiv eine höhere Belastung und Abbruchneigung, wobei der Unterschied allerdings statistisch nicht streng geprüft würde.

Neben diesen Aspekten wird in der Forschung aber auch die soziale Integration als Bedingungsfaktor für den Studienabbruch (v. a. für Studierende erster Generation) benannt (Bargel & Bargel, 2010; Büchler, 2012). Der Bildungshintergrund kann demnach beeinflussen, wie vertraut die Studierenden mit dem System der Hochschule sind. Wenn es also beispielsweise keine akademischen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie gibt (d. h. Eltern ohne Hochschulabschluss), könnten sich die Studierenden fremd und unsicher fühlen, auch mit Blick auf Studienstrategien und das allgemeine Zurechtkommen in der Hochschule (Bargel, 2006). Gerade für Studierende erster Generation kann demnach eine gute soziale Integration in das Kommiliton:innen-Netzwerk, insbesondere durch die Einbindung in Lerngruppen, bedeutsam für ihre akademischen Leistungen und ihren Studienerfolg sein (z. B. Pascarella et al., 2004; Wong, 2018). Dadurch können unter anderem Wissen, Motivation und Lernstrategien übernommen werden, was es leichter macht, sich im akademischen Raum der Hochschule zurechtzufinden und die Wahrscheinlichkeit für ein erfolgreiches Studium erhöhen kann (Thomas, 2002; Wong, 2018).

Zwei Studien haben sich dezidiert mit der sozialen Integration Studierender erster Generation während der Pandemie befasst. Die Studie von Mates et al. (2021) an der Universität Durham zeigt, dass Studierende erster Generation während der digitalen Lehre im Sommersemester 2020 von weniger Sozialkontakten zu Mitstudierenden berichteten. Sie nahmen auch in geringerem Maße an digitalen sozialen Treffen teil. Breitenbach ­(2021) zeigte außerdem in ihrer Studie, dass die digitale Lehre von Studierenden erster Generation insgesamt schlechter bewertet wurde als von Studierenden aus einem akademischen Elternhaus. Möglicherweise spielen bei der Frage nach der Bedeutung der sozialen Integration auch motivationale Faktoren beim Lernen mit digitalen Formaten eine Rolle, eine abschließende Beantwortung war in diesem Rahmen jedoch nicht möglich. In drei weiteren Studien wurden Studienleistungen (Aguilera-Hermida, 2020), Aspekte von Selbstregulation beim Lernen wie z.B. die Konzentrationsfähigkeit (Karapanos et al, 2021) sowie Technikverfügbarkeit und -akzeptanz betrachtet. Hier fanden sich allerdings keine bedeutsamen Zusammenhänge mit dem akademischen Hintergrund.

Fazit

Die Studienlage zur Situation von Studierenden erster Generation ist heterogen. Dies betrifft zum einen die Aussagekraft der Studien: Den Arbeiten des DZHW, die auf bundesweit repräsentativen Daten vor und nach der Pandemie zurückgreifen konnten, stehen eine Reihe von Arbeiten gegenüber, die zu einem einzigen Zeitpunkt während der Pandemie sowie mehrheitlich an einzelnen universitären Standorten durchgeführt wurden und damit nur sehr begrenzt generalisierbar sind. Zum anderen ist die Befundlage gemischt: Während sich in den Arbeiten des DZHW eine leichte Verschärfung durch die Pandemie andeutet, sind die Befunde zu den abbruchrelevanten Faktoren uneinheitlich. Hier zeigte sich, dass Studierende erster Generation finanziell belasteter und durch die digitale Lehre weniger gut sozial integriert waren. Andere Studien wiederum fanden jedoch keine soziale Benachteiligung für diese Gruppe im Hinblick auf Leistung, Selbstregulation und Technikakzeptanz. Hier deutet sich also weiterer Forschungsbedarf an. Eine Fragestellung könnte dabei mit Blick auf die digitale Lehre sein, wie inklusive und chancengleiche (digitale wie analoge) Lehr- und Lernsettings gestaltet werden können, die den Bedürfnissen unterschiedlicher Studierendengruppen gerecht werden.


Literatur

Aguilera-Hermida, A. P. (2020). College students’ use and acceptance of emergency online learning due to COVID-19. International Journal of Educational Research Open 1. https://doi.org/10.1016/j.ijedro.2020.100011

Bargel, T. (2006). Soziale Ungleichheit im Hochschulzugang und Studienverlauf. Koblenz: Universität Koblenz. urn:nbn:de:0168-ssoar-236632.

Bargel, H. & Bargel, T. (2010). Ungleichheiten und Benachteiligungen im Hochschulstudium aufgrund der sozialen Herkunft der Studierenden (Arbeitspapier, No. 202). Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.

Becker, K. & Lörz, M. (2020). Studieren während der Corona-Pandemie: Die finanzielle Situation von Studierenden und mögliche Auswirkungen auf das Studium. (DZHW Brief 09/2020). Hannover: DZHW.

Besa, K. S., Kochskämper, D., Lips, A., Schröer, W. & Thomas, S. (2021). Stu.diCo II – Die Corona Pandemie aus der Perspektive von Studierenden. Erste Ergebnisse der zweiten Erhebung aus der bundesweiten Studienreihe Stu.diCo. Hildesheim: Universität Hildesheim. https://doi.org/10.18442/194

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Büchler, T. (2012). Studierende aus nichtakademischen Elternhäusern im Studium: Expertise im Rahmen des Projektes "Chancengleichheit in der Begabtenförderung" der Hans-Böckler-Stiftung (Arbeitspapier, No. 249). Düsseldorf: Hans-Böckler-Stifung.

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Zimmer, K. & Thies, K. (2021). Die Studienabbruchintention vulnerabler Studierendengruppen während der Corona-Pandemie. Hannover: DZHW