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Aus dem Bereich Evaluation: Führt das Studium in Zeiten der Pandemie zu einer Verstärkung von Ungleichheiten? Ergebnisse eines Vergleichs der Masterbefragungen 2017 und 2021

22.11.2022

Verschiedene Studien zeigen, dass die pandemiebedingte Umstellung auf digitale Lehr-Lernformate Studierende vor große Herausforderungen stellte und sowohl mit einem deutlichen Rückgang der sozialen Kontakte im Studium als auch mit einem höheren Belastungserleben einherging. Dabei wird vermutet, dass diese Herausforderungen dazu beitragen könnten, bestehende Ungleichheiten im Studienerfolg zu verschärfen. Doch lässt sich tatsächlich eine Zunahme von bildungs-, migrations- und geschlechtsbezogenen Unterschieden durch die Pandemie beobachten? Dieser Frage gehen wir anhand von Daten der Masterbefragungen an der Freien Universität Berlin in den Jahren 2017 und 2021 nach. Entgegen den Erwartungen finden sich kaum Hinweise auf eine besondere Benachteiligung bestimmter Studierendengruppen durch die Pandemie.

Hochschulbildung spielt eine zentrale Rolle in unserem Bildungssystem, besonders im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Allerdings beeinflussen Faktoren wie Bildungshintergrund, Geschlecht oder Migrationshintergrund der Studierenden nicht nur den Zugang zu Hochschulbildung, sondern auch die Abschlusswahrscheinlichkeit (Middendorf et al., 2017). So zeigen Studien, dass Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern („Studierende erster Generation“), Studierende mit Migrationshintergrund sowie männliche Studierende ihr Studium häufiger abbrechen als ihre Kommiliton*innen (Middendorf et al., 2017; Klein & Müller, 2020). Vor Beginn der Coronapandemie wiesen diese Disparitäten eine gewisse Stabilität auf (Dittler & Kreidl, 2021). Die pandemiebedingte Umstellung des Lehrbetriebs auf digitale Lehr-Lernformate stellte Studierende aber vor völlig neue Herausforderungen. Neben finanziellen Unsicherheiten zählten dazu beispielsweise auch der Mangel an persönlichem Austausch mit anderen Studierenden sowie höhere Anforderungen an die Selbstorganisation beim Lernen (Becker & Lörz, 2020; Besa et al., 2021; Lörz et al., 2020). Es wird vermutet, dass diese Herausforderungen insbesondere vulnerable Studierendengruppen, wie Studierende erster Generation, betreffen und so bereits vorhandene Ungleichheiten noch weiter verschärft werden könnten (Dittler & Kreidl, 2021; vgl. auch: Rundbriefartikel von Lea Grosser).

Trotz einer Vielzahl an Studien zur Studiensituation in Pandemiezeiten existieren bislang nur wenige Arbeiten, die Subgruppenunterschiede vor und während der Pandemie vergleichend untersucht haben. Verschiedene Studien, die zumeist im ersten digitalen Sommersemester 2020 durchgeführt wurden, finden aber Hinweise, dass bestimmte Studierendengruppen durch die Pandemie stärker belastet waren. So waren Studierende erster Generation stärker durch finanzielle Probleme belastet als Studierende aus Akademikerfamilien (Besa et al., 2021). Obwohl im Rahmen repräsentativer Studien des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) im ersten Digitalsemester generell keine erhöhte Abbruchintention im Vergleich mit der Präsenzlehre festgestellt werden konnte (Becker & Lörz, 2020; Lörz et al., 2020), gibt es Hinweise darauf, dass der Unterschied zwischen Studierenden mit und ohne akademischen Bildungshintergrund in der Studienabbruchintention während der Pandemie größer war als vor der Pandemie (Lörz et al., 2021). Eine Studie mit Studierenden der Psychologie zeigt weiterhin, dass Frauen im Vergleich zu Männern ein höheres Ausmaß an Belastung, Stress und Depression während der Pandemie wahrnahmen (Weiss et al., 2022). Eine weitere Studie mit Lehramtsstudierenden fand hingegen Hinweise darauf, dass Männer eine höhere Abbruchsintention als Frauen hatten (Hahn et al., 2021). Die Ergebnisse dieser Studien wurden jedoch nicht mit Daten aus Zeiten vor der Pandemie verglichen. Deshalb ist unklar, ob und inwieweit sich die Geschlechterunterschiede durch die Pandemie tatsächlich verstärkt haben. Auch zur Situation von Studierenden mit Migrationshintergrund liegen bisher kaum empirische Ergebnisse vor. Lörz und Kollegen (2021) fanden aber Hinweise darauf, dass sich auch migrationsbedingte Unterschiede in der Studienabbruchintention durch die Pandemie vergrößert haben. Insgesamt ist die Datenlage zur Frage, inwieweit sich bestehende Ungleichheiten durch die Pandemie verstärkt haben, aber gering.

Welche Erkenntnisse ergeben sich aus dem Vergleich der Ergebnisse der Masterbefragungen 2017 und 2021?

Im Folgenden werden neben Unterschieden zwischen Studierenden erster Generation und Studierenden aus einem akademischen Elternhaus auch Unterschiede zwischen Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund sowie Geschlechterunterschiede im Belastungserleben und in der Studienabbruchintention betrachtet. Es wurden mehrfaktorielle Varianzanalysen berechnet, wobei das Fachsemester und die Fächergruppe in allen Analysen kontrolliert wurden.

Wie in Abbildung 1 dargestellt, zeigt sich für den Bildungshintergrund, dass Studierende aus Akademikerfamilien sowohl vor (2017) als auch während der Pandemie (2021) ein signifikant geringeres Belastungserleben und eine signifikant geringere Abbruchintention aufwiesen als Studierende erster Generation. Es handelt sich hierbei jeweils um kleine Effekte (Belastungserleben: 2017: d = .20/ 2021: d = .13; Abbruchintention: 2017: d = .09/ 2021: d = .10). Zudem zeigt sich wie erwartet, dass das Belastungserleben im Jahr 2021 in beiden Gruppen signifikant höher war als vor der Pandemie im Jahr 2017. Die Zunahme im Belastungserleben ist allerdings in beiden Gruppen vergleichbar. Die Abbruchintention ist hingegen in beiden Gruppen nicht signifikant durch die Pandemie gestiegen.

Abb. 1. Belastungserleben und Abbruchintention in den Jahren 2017 und 2021 nach Bildungshintergrund

Ein ähnliches Befundmuster zeigt sich auch mit Blick auf den Migrationshintergrund. Insgesamt berichteten Studierende mit Migrationshintergrund über ein signifikant höheres Belastungserleben als Studierende ohne Migrationshintergrund. Auch hierbei handelt es sich um kleine Effekte (2017: d = .08/ 2021: d = .08). Der Anstieg im Belastungserleben durch die Pandemie betraf aber wiederum Studierende mit und ohne Migrationshintergrund in gleichem Maße. Die Abbruchneigung ist sowohl über die Gruppen als auch über die Jahre 2017 und 2021 vergleichbar.

Abb. 2. Belastungserleben und Abbruchintention in den Jahren 2017 und 2021 nach Migrationshintergrund

Für das Geschlecht zeigt sich, dass der Anstieg im Belastungserleben für Männer signifikant größer ausfällt als für Frauen. Während Frauen vor der Pandemie stärker durch ihr Studium belastet waren als Männer, wobei der Unterschied einem kleinen bis mittleren Effekt entsprach (2017: d = .27), ist der Geschlechterunterschied im Jahr 2021 deutlich geringer und entspricht nur noch einem kleinen Effekt (2021: d = .10). Für die Abbruchneigung sind aber wiederum weder zwischen den beiden Gruppen noch zwischen den Befragungen signifikante Unterschiede zu verzeichnen.

Abb. 3. Belastungserleben und Abbruchintention in den Jahren 2017 und 2021 nach Geschlecht


Zusammenfassung

Die dargestellten Befunde zeigen in Übereinstimmung mit bisherigen Studien, dass Masterstudierende erster Generation sowie Masterstudierende mit Migrationshintergrund im Vergleich stärker durch ihr Studium belastet sind. Dies zeigt sich sowohl 2017, also vor der Pandemie, als auch 2021. Trotz einer generellen Zunahme im Belastungserleben lässt sich keine Verschärfung dieser Ungleichheiten durch die Pandemie für Masterstudierende der Freien Universität Berlin beobachten. Für das Geschlecht zeigt sich sogar ein gegenteiliger Effekt – der Geschlechterunterschied im Belastungserleben zu Ungunsten der Frauen fiel in der Pandemie geringer aus als im Jahr 2017.

In Übereinstimmung mit Ergebnissen der DZHW-Studie (Becker & Lörz, 2020; Lörz et al., 2020) ließen sich weiterhin keine Hinweise auf eine pandemiebedingte Zunahme der Studienabbruchintention in der Stichprobe identifizieren. Ein weiteres Ergebnis ist, dass weder in der Masterbefragung 2017 noch in der Masterbefragung 2021 Unterschiede zwischen den verschiedenen Studierendengruppen in der Studienabbruchintention identifiziert werden konnten. Dieser Befund widerspricht bisherigen Studien vor und während der Pandemie, die auf soziale sowie migrations- und geschlechtsbezogene Disparitäten im Studienabbruch (Klein & Müller, 2020) bzw. in der Studienabbruchintention (Hahn et al., 2021; Lörz et al., 2021) hinweisen. Ein Grund für diese unterschiedlichen Befundmuster könnte die betrachtete Stichprobe von Masterstudierenden sein. So wurden im Rahmen der genannten Studien vor allem Bachelorstudierende (Klein & Müller, 2020) bzw. Studierende aller Abschlussarten (Hahn et al., 2021; Lörz et al., 2021) untersucht. Masterstudierende sind Studienanfänger*innen im Bachelor aufgrund ihrer bisherigen Studienerfahrung möglicherweise hinsichtlich der Selbstorganisationsfähigkeiten überlegen und verfügen vermutlich auch oftmals bereits über soziale Kontakte im Studium. Beides können Faktoren sein, die vor einem Abbruch schützen.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse für Masterstudierende der Freie Universität Berlin, dass die Pandemie zwar zu einer stärkeren Belastung im Studium geführt hat, dies aber weder mit einer deutlich höheren Studienabbruchintention noch mit einer deutlichen Verschärfung von sozialen, migrations- und geschlechtsbezogenen Ungleichheiten einherging.

Literatur:

Becker, K. & Lörz, M. (2020). Studieren während der Corona-Pandemie: Die finanzielle Situation von Studierenden und ihre möglichen Auswirkungen. DZHW Brief, 9, Hannover: Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung.

Besa, K.S., Kochskämper, D., Lips, A., Schröer, W. & Thomas, S. (2021). Stu.diCo II – Die Corona Pandemie aus der Perspektive von Studierenden. Erste Ergebnisse der zweiten Erhebung aus der bundesweiten Studienreihe Stu.diCo. Hildesheim: Universität Hildesheim.

Dittler, U. & Kreidl, C. (2021). Wie Corona die Hochschullehre verändert. Erfahrungen und Gedanken aus der Krise zum zukünftigen Einsatz von eLearning. In U. Dittler & C. Kreidl (Hrsg.), Wie Corona die Hochschullehre verändert. Erfahrungen und Gedanken aus der Krise zum zukünftigen Einsatz von eLearning (S. 1–15). Wiesbaden: Springer VS.

Hahn, E., Kuhlee, D. & Porsch, R. (2021). Studienerfolg und Abbruchtendenz von Lehramtsstudierenden im Licht ihres Belastungserlebens während der Pandemie. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 2, 37-41.

Klein, D. & Müller, L. (2020). Soziale, ethnische und geschlechtsbezogene Ungleichheiten beim Studienabbruch. Zeitschrift für empirische Hochschulforschung, 4 (1), 13-31.

Lörz, M., Marczuk, A., Zimmer, L., Multrus, F. & Buchholz, S. (2020). Studieren unter Corona-Bedingungen: Studierende bewerten das erste Digitalsemester. DZHW Brief, 5, Hannover: Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung.

Lörz, M., Zimmer, L. & Koopmann, J. (2021). Herausforderungen und Konsequenzen der Corona-Pandemie für Studierende in Deutschland. Psychologie in Erziehung und Unterricht 68, 312–318.

Middendorf, E., Apolinarski, B., Becker, K., Bornkessel, P., Brandt, T., Heißenberg, S. & Poskowsky. J. (2017). Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016. 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.). Hannover: BWH GmbH.

Weiss, E. M., Kaufmann, L., Ninaus, M. & Canazei, M. (2022). Belastungen durch Fernlehre und psychische Gesundheit von Studierenden während der COVID-19-Pandemie. Lernen und Lernstörungen, 1-13.